Choralphabet
Pause – Und ich kam wieder zurück zur Karlshöhe
In meinem Leben gab es einen großen Umbruch und ich verließ die Kantorei. Andrea, meine Tochter, sie hatte im Sopran gesungen, war auch schon seit einem Jahr weggezogen. Da erfuhr ich, dass zwei meiner Tenormitsänger verstorben waren. Albert Gerhard und Gisela v. Seltmann. Ich war den Menschen der Kantorei immer noch verbunden. Dann fragte mich Waltraud Bauer, ob ich beim nächsten Projekt wieder mitmache? „Die Jahreszeiten“, mit viel Bewegung des Kleinen Chores auf der Bühne. Der Spaß, den ich dabei hatte – er lässt sich nicht in Worte fassen. Und so kam ich wieder zurück zur Karlshöhe. Nikolai Ott ist nun Dirigent der Kantorei. Es ist ein gutes Miteinander bei den Aufführungen. Wir entdecken einen völlig neuen Aufführungsort: den Urban Harbor. Dann kam Corona und änderte alle Pläne.
Elfriede Imrich,
mit Unterbrechungen Tenor seit 2004
Die Suche nach der verschwundenen Partitur
Ohne Partitur geht gar nichts. Jeden Dienstagsabend macht sich die Sängerin auf die Suche nach der Partitur. Da sie die ganze Woche über wieder einmal nicht so richtig zum Üben gekommen ist, konnten sich die dünnen Heftchen (zum Beispiel Bachkantaten) oder dicke Wälzer (Oratorien, große Messen) irgendwo im Haus verstecken. Auf dem Klavier, neben der Stereoanlage, auf dem Schreibtisch vielleicht? Gar in der Küche oder im Bad? Gefunden! Die Partitur lag neben dem Computer! Ach ja, am Mittwoch gab es etwas Zeit, per Video in das neue Werk mal reinzuhören. Ab in die Tasche damit.
Catherine Moll,
Sopran 1992 – 2012, seitdem Alt
Piano – piano!
“Piano, ich weiß nicht, ob ich euch das schon gesagt habe, heißt nicht langsam.” Und ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Chor auf dieser Welt gibt, der nicht genau diesen Satz in jeder Probe einmal zu hören bekommen sollte. Also, wir hören ihn. Oft! Nikolai Ott zitiert sich da gern selber. Es ist eben nicht besonders effektvoll, wenn man eine lauthals jubilierende Sängerschar mit einem gleichfalls nicht leisen Notruf “Piano” auf Minimalmaß zu zwingen versucht. Das funktioniert nicht. Bisweilen sind sich ja auch die Dirigenten uneins oder die Choristen wissen es besser, verblasste Bleistiftnotizen erzählen von gehabter Aufführungspraxis beim letzten oder vorletzten Mal. Zum Beispiel bei dem Choral im Weihnachtsoratorium, Ende Teil I: “Ach, mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein”, da war in meinen Noten zwischen Superleise (pp) und Superlaut (ff) alles drin. Tobias Horns Ansage indes war eindeutig: “Wie soll das Kindle denn einschlafen können, wenn ihr so schreit?”
Gertrud Schubert,
Sopran 1997
Plakate kleben
Ohne Werbung gibt es bekanntlich kein großes Publikum. Daher traf sich vor jedem Konzert immer eine Gruppe von chorischen AktivistInnen, die sich unter der Kirche der Karlshöhe der wunderbar gestalteten Plakate annahmen. Sie hatten jede Menge Spaß zusammen, auch wenn es harte Arbeit war. Denn bevor die Plakatträger eingekleistert und neu beklebt werden konnten, mussten sie sorgfältig abgekratzt werden.
Nach der nächsten Chorprobe wurden sie dann an einige mutige Choristen verteilt, die sie allein oder in Grüppchen in einer Nacht- und Nebelaktion aufstellten. Das war ganz schön gefährlich. Hin- und her musste die B27 überquert werden, um die Plakate auf dem Mittelstreifen an Laternen- oder Fahnenmasten festzuzurren. Sie sollten am anderen Morgen den Berufpendlern sofort ins Auge stechen. Natürlich mussten bei der nächtlichen Aktion zahlreiche Auflagen der Stadt beachtet werden. Und: Damit war die Arbeit noch nicht getan. Schließlich fühlte man sich für “seine” Plakate zuständig und betreute sie liebevoll in der Zeit vor dem Konzert. Wenn Wind und Wetter ihnen zusetzten, wurde sie, wenn es denn sein musste, auch nochmals neu eingekleistert.
Nach dem Konzert ging es sofort an den Abbau. Wieder bei Nacht und dieses Mal nicht in leuchtenden Multifunktionsjacken, sondern in schwarzer Konzertkleidung sammelten die ChorsängerInnen todesmutig ihre Plakate ein. Gut, dass aus der Kantorei der Karlshöhe so kein Kammerchor wurde!
Gunhild Schnekenburger,
Alt seit 2002
Podeste schleppen, Pultlampen verkabeln
Für jede Aufführung war viel Technik notwendig. Chorpodeste zum Beispiel, damit alle den Dirigenten gut sehen können. Die ersten Podeste stellten die Karlshöher Werkstätten unter Leitung von Helmut Stoll her. Sie haben nie ausgedient. Viele Transporte zur Friedenskirche, ins Schloss, nach Besigheim und Montbeliard und in andere Orte haben sie überstanden. Erst nachdem die Friedenskirchengemeinde selber Podeste angeschafft hatte, entfiel wenigstens dieser Transport. Trotzdem mussten Notenständer transportiert werden. Mit der Zeit wurden auch Lampen für die Ständer besorgt. Es wurde also immer mehr technischer Aufwand. Für die Pultlampen mussten Kabel verlegt werden, ohne Stolperfallen zu jedem Orchesterplatz. Und nicht zu vergessen die Orgel- und Cembalotransporte! Ein großer Dank an alle, die bei Transport, Auf- und Abbau imer mitgeholfen und mitaufgepasst haben, dass nichts übersehen und vergessen wird.
Wolfgang Gaub,
Tenor etwa 1993 - 2017
Sollen wir ein Tänzchen wagen?
Siegfried Bauer liebte es, beim Einsingen Kanons anzustimmen. Und ich fragte mich und bald auch ihn: “Können wir uns dazu nicht ein bisschen bewegen?” Seine Antwort kam prompt und war in ihrer Konsequenz ganz wundervoll für mich: “Ja, hasch du das gelernt?” Ja, hatte ich, Musik und Bewegung an der Hochschule in Stuttgart studiert. Mit einem Mal war ich Lehrbeauftragte für Tanz und Improvisation, Musik bei Bauer war für die Studierenden auf der Karlshöhe in den ersten beiden Semestern Pflicht. Eines schönen Probenabends überraschte mich Siegfried Bauer mit einer zweiten Tanz-Frage: “Kannsch du auch Gesellschaftstanz, so ganz klassisch?” Er wollte ein bisschen üben, damit er bei der Hochzeit seines Sohnes einigermaßen sicheren Schrittes über die Tanzfläche schweben konnte. Also trafen wir uns, mehrere Ehepaare, für den Hochzeitstanz: die Waltraud tanzte mit meinem Gerhard, der Siegfried mit mir… Dass er mir die Führung überlassen sollte – ja gut, das hatte er schon ein Mal erprobt: 1985, bei der großen Polonaise über das Gelände der Karlshöhe. Siegfried Bauer mit Barockperücke schritt mir zur Seite voran. Exakt zum letzten Ton saß alles im Artrium. So feierten wir den 300. Geburtstag von Johann Sebastian Bach.
Sibylle Schmitt,
Alt, mit Unterbrechungen 1981 – 2020
Die Orgel in der Putzkammer
Unser meisterhafter Continuo-Begleiter und Ensembleleiter Peter Kraenefoed übertrug mir in einem nächtlichen Anruf kurz vor dem Mozart-Requiem im Urban Harbor die Aufgabe, einen Ruheplatz zum Eingewöhnen für seine hübsche Kastenorgel zu finden. Der Konzertsaal sollte das Speisewerk sein, wo sich an Werktagen die Beschäftigten des Areals zu Entspannung und Mittagessen treffen. Ich ging also während des mittäglichen Hochbetriebs mit dem Manager durch alle Nebenräume, die sich eventuell eignen könnten. Es fand sich ein Plätzchen in einer Putzkammer, ja, da würde die Orgel gerade so hineinpassen. Eine Steckdose fürs Gebläse war auch vorhanden. Perfekt.
Also schaffte Peter zwei Tage vor dem Konzert seine hochwertige, in Tücher gehüllte Orgel in dieses Kämmerlein. Ein Schild signalisierte den internationalen Putzkräften, die da ein und aus gehen, dass in ihrem Lagerraum ein Musikinstrument steht. Auf diesem sollten weder Putzlappen abgelegt, noch Eimer gestapelt werden. Der Hinweis “Do not touch” wurde aufmerksam beherzigt. So duldelte die Orgel ihre ungewöhnliche Unterkunft und hielt einigermaßen ihre Stimmung.
Ursula Göz,
Sopran seit 1993
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