Von Felix Mendelssohn-Bartholdys „Lobgesang“ zu Josef Haydns „Schöpfung“
Das Jubiläumsjahr
Der „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy war schon vor der Zeit des Virus auf dem Tableau der Kantorei und sollte der Freude über das 50-jährige Jubiläum Ausdruck verleihen - doch nun steht es unter ganz anderen Vorzeichen. Es stellt sich die Frage, ob der „Lobgesang“ den richtigen Ausdruck für die vielen offenen Fragen nach der Pandemie findet. Viele Menschen sind gestorben, wirtschaftliche Existenzen zerstört, Familien zerbrochen und Kinder nachhaltig benachteiligt. Darf man da loben? Kann man „Danke“ sagen? Aus Sicht derer, die relativ glimpflich davongekommen sind, darf man das sicher. Doch was ist mit den anderen?
Der Rat der Stadt Leipzig gab den „Lobgesang“ 1840 bei Felix Mendelssohn-Bartholdy in Auftrag. Es sollte symphonisch sein und einen Chor vorsehen. Das Werk beendete schließlich eine fast eineinhalbjährige Schaffenskrise des Komponisten.
Mendelssohns Symphonie-Kantate ist durchaus ikonisch: im ersten Drittel des Werkes ist der Chor nicht beteiligt. Und der Zuhörer bemerkt: irgendetwas fehlt, denn das Orchester singt - viele Phrasen der ersten 500 Takte könnte man ohne weiteres textieren. Doch es scheint, als ringe das Orchester nach Worten für die Musik. Erst der Chor, der beim Jubiläumskonzert ebenfalls eine anderthalbjährige, durch die Pandemie erzwungene „Schaffenskrise“ beenden wird, macht das Werk vollständig, und erst der Chor gibt schließlich dem Stück seine „Aus-Sage“. „Hüter, ist die Nacht bald hin?“ fragt der Tenor, eine Frage, die man vielen Politikern gestellt hat, viele Chorsänger fragten: „ist der Lockdown endlich vorbei?“
Anlass für das Auftragswerk war der vierhundertste Jahrestag der Erfindung des Buchdrucks (mit beweglichen Lettern) durch Johannes Gutenberg. Das macht den Lobgesang auch aus historischer Perspektive aktuell:
Heute stehen wir wieder an einer Schwelle. Die Erfindung des Internets und die allgemeine Zugänglichkeit des Netzes macht jeden Einzelnen zu einem potentiellen Autor und vor allem zum Konsumenten. Bildung gibt es nun digital, Informationen sind in Echtzeit verfügbar und entsprechende Meldesysteme sind dadurch fast tagesaktuell. Ohne das Internet wäre die Covid19- Pandemie sicherlich anders verlaufen und ziemlich sicher: auch schlimmer. Und doch gibt es auch in unseren Zeiten die Kehrseiten dieser Informationsflüsse: fake news, nicht journalistisch geprüfte, schnell hochgeladene Informationen und Analysen führen immer wieder zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen.
Felix Mendelssohn-Bartholdy setzte die Folgen, die die Erfindung Gutenbergs nach sich zogen, in eine Allegorie biblischer Worte. Seine Textzusammenstellung sagt allerdings noch viel mehr aus: Sie ist gleichzeitig auch eine Allegorie auf die schier unendlichen Fragen der „conditio humana“, und sie lässt sich auf unsere Zeit übertragen: So singt der Tenor – nach einem ersten Lob - „Stricke des Todes hatten uns umfangen“ und „wir wandelten in Finsternis“. Auch wir mussten in der Pandemie erfahren, wie hilflos wir doch trotz aller Technologie und aller Vorsicht sind. Wie im Dunkeln torkelnd haben Politik, Forschung, Medizin und auch jeder Einzelne von uns nach Wegen gesucht, die Pandemie (fast wie ein Exit-Game) wieder verlassen zu können. Die Krankheit hat Wunden in Politik, Gesellschaft und Kultur freigelegt, die in den letzten Jahrzehnten latent vorhanden waren und nun aufgebrochen sind. Wir werden in diesem Zusammenhang Dinge und Strukturen hinterfragen und auch vieles andere neu denken müssen.
Wir sind alle den Weg gegangen, den der Beter des 73. Psalmes gegangen ist, in gewisser Weise auch den Weg Hiobs, und zwar kollektiv. Beide haben ein Tal individueller Verluste und Anfechtungen durchschritten, und doch ist ihre Haltung klar, so heißt es am Ende des 73. Psalmes:
Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil. […] Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf Gott den Herrn, dass ich verkündige all dein Tun.
In allen Belangen ist der Lobgesang folglich auch und gerade heute hochaktuell, und er ist ein Ausdruck unseres Vertrauens und auch unserer (Lebens-)Freude – die der Pandemie trotzig entgegentreten will!
So wird der „Lobgesang“ das Jubiläumsjahr der Kantorei der Karlshöhe wie geplant einläuten - - es ist die von Luther beschworene „Flucht vor Gott – zu Gott!“- als Kantorei der kirchlichen Stiftung und diakonischen Einrichtung Karlshöhe können wir gar nicht anders!
Der „Lobgesang“ führt uns dann auch hin und leitet über zu den Fragen, die ein Werk aufwerfen wird, das das Jubiläumsjahr im Herbst 2022 beschließen soll: Joseph Haydns „Schöpfung“.
Die „Schöpfung“ war von der Kantorei der Karlshöhe für das Jahr 2020 vorgesehen, das Jahr, das unfreiwillig zum Jahr der verlegten Konzerte geworden ist. In einzigartiger Weise entführt das Stück den Chor und die Hörer in eine biblische Erzählung, ausgeschmückt mit allerlei paradiesischen Vorstellungen, lautmalerischen Schöpfungsakten und einem glücklichen Paar am Ende, das durch das Paradies lustwandelt und von keiner Sünde weiß. Kein anderes Stück besingt die Schöpfung so jubelnd, so frei und so unbeschwert. Berechtigterweise gibt es Fragen zum romantischen Friede-Freude-Eierkuchen und zur Darstellung des Gender-Bildes im Libretto der „Schöpfung“. So will dieser Abend mit einem zweiten Stück wieder einen Perspektivwechsel vornehmen, der an den Bewahrungsauftrag für den Menschen geknüpft ist: Inspiririert vom Bild der aufgehenden Erde, das die Besatzung der Apollo 8-Mission am Heiligen Abend 1968 aufgenommen hatte, entfaltet der britische Komponist Alec Roth mit seinem 2010 entstandenen Stück „Earthrise“ eine Dimension, die in Haydns „Schöpfung“ aus historischen Gründen offen bleibt. Gottfried van Swieten, der Librettist der „Schöpfung“, wusste wie Haydn nichts von Überfischung, von CO2, Stickoxiden oder gar Zoonosen. Heute sind sie Bestandteil der breiten, öffentlichen Diskussion und werden zum Teil moralisch überhöht oder noch schlimmer: einfach ausgeklammert.
Mit seiner Kompilation alttestamentlicher Texte nimmt sich Alec Roth allerdings nicht dieser Themen selbst an, vielmehr geht er einen Schritt zurück, indem er dem Zuhörer viel grundsätzlichere Fragen stellt, am zentralsten wohl: „Wo will man aber die Weisheit finden? Und wo ist die Stätte des Verstandes?“ aus dem Buch Hiob.
Der Text und die Musik von „Earthrise“ öffnen ein weites Fenster zu Haydns „Schöpfung“, wollen den Diskurs und das Ringen um die Verantwortung des Menschen gegenüber Gottes Schöpfung wach und frisch halten, ohne wertend zu sein und sie bitten: „Komm, und lehre uns den Weg der Einsicht“. Nicht die Einsicht selbst - sondern den Weg dorthin.
Machen wir uns auf den Weg, 50 Jahre Kantorei der Karlshöhe sind erst der Anfang!
Von Nikolai Ott,
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