"Beben" Psalm 114

Jan Kopp

Im Herbst der Uraufführung von Jan Kopps “Beben” konnte sich keiner von uns eine Vorstellung machen, dass und vor allem nicht wie eine Pandemie unser ganz gewöhnliches Leben verändert. Wie in Psalm 114 ist alles Vertraute in Frage gestellt. Die Grundfesten sind erschüttert.

Berge hüpfen wie Lämmer

Weidende Schafe sind das Sinnbild für Idylle, Wohlbefinden, Harmonie. Die Sehnsuchtslandschaft Arkadien ist ohne Schafe unvorstellbar. Freuen wir uns nicht jedes Mal wie Kinder, wenn wir eine Schafherde entdecken? Wo Schafe rumstehen, scheint alles in Ordnung, heutzutage immer auch ein bisschen öko. Sie sind rundherum positiv besetzt.

Nicht nur in der bukolischen Dichtung gibt es dieses heitere Bild vom Landleben. Auch die Bibel kennt das Schafsidyll: von den Hirten auf dem Felde bis zum Hirten seiner Schafe, der von keinem Schlafe etwas wissen mag. Und Psalm 23, ihr wisst schon. Wer hat nicht sofort eine Pastorale im Ohr, kennt nicht Beethovens „Heitere Gefühle bei der Ankunft auf dem Land?“ In der Musik wimmelt es von Schafen.

Diese Schäferidylle stellt Psalm 114 auf den Kopf. In ihm wird das Gewohnte zerstört  -  das, was wir so gerne haben oder gerne so hätten. Da heißt es:
„Die Berge hüpften wie die Lämmer, die Hügel wie die jungen Schafe.“ Das ist eine alles Schöne, Gewohnte, Alltägliche durcheinanderwirbelnde Erfahrung. Eine „erschütterte Stimmung“. Ob sie jetzt durch ein Erdbeben (Terra mota est – die Erde wurde bewegt) erzeugt wird, durch wirtschaftlichen Zusammenbruch, Krieg, Terror, Hunger, Krankheit, Fliegen, Heuschrecken, Tod und Teufel sei dahin gestellt. Jan Kopp sieht in dieser gebrochenen Schäfchenidylle „eine von großen Kräften bewegte Erschütterung“.

Fassungslos lässt er die vier Solisten in vier allgegenwärtigen Alltagssprachen die Warumfrage singen: „Was war mit dir Meer…“ Warum nur hüpften die Berge wie Lämmer? Eine Antwort gibt es nicht. Im Psalm nicht, erst recht nicht in der Musik.

Die Psalmvertonung ist also keine Short Version der Exodusgeschichte, wie sie Händels “Israel in Egypt” erzählt. Das hat Jan Kopp weit von sich gewiesen. Zwischen alttestamentliche Horrorgeschichte und Lobgesang zwang seine Musik in unserem Konzert 2017 ein Innehalten und stellte einen Bezug her zur modernen, aus den Fugen geratenden Welt.

Gertrud Schubert,
Sopran seit 1997

Videoedition der Uraufführung

Das Einstandskonzert Nikolai Ott's am 12. November 2017 in der Friedenskirche wurde von den Ludwigsburger Bauer Studios unter der Leitung unseres Tenor und Tonmeisters Johannes Wohlleben professionell aufgezeichnet. Nun hat sich Nikolai Ott selbst des Werkes noch einmal angenommen und ein Video mit unterlegter Partitur angefertigt, welches wir hier nun mit Einwilligung Jan Kopps veröffentlichen.


Aus dem Programmheft

„Zweimal eingeleitet von einem Ruf des Solosoprans, formen Chor und Orchester in immer weiter ausschwingenden Tuttischlägen die Schockwellen des „Bebens". Diese verwandeln sich allmählich - dem biblischen Bild der Verwandlung von Stein in Wasser folgend - in eine liegende Klangfläche. Dem Geist über den Wassern gleich, singen die Solisten den Schlußsegen über dieser sich beruhigenden Klangfläche.“

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Kantate für vier Soli, drei Chorgruppen und Orchester (2017)

Jan Kopp - Beben

Eine Zwischenmusik zu Georg Friedrich Händels monumentalem Oratorium "Israel in Ägypten" zu komponieren - zumal für einen Laienchor -, ist eine reizvolle und zugleich heikle Aufgabe. Ästhetische und dramaturgische Aspekte sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie pragmatische. Wie diese sich in meiner Komposition "Beben" niedergeschlagen haben, soll im folgenden kurz erläutert werden.

Die Nachbarschaft zu Händels Musik macht es notwendig, sich zu dieser kompositorisch zu verhalten. Da "Israel in Ägypten" von großer Klangfülle, Dynamik und polyphoner Dichte geprägt ist, die Musikern wie Hörern einiges abverlangen, soll mein Stück dazu einen ruhigen Gegenpol, einen Moment der Kontemplation bilden. Der vertonte Text des 114. Psalms, "In exitu Israel", bietet die Möglichkeit, die Handlung des Oratoriums aus einem veränderten Blickwinkel zu betrachten. Ins Zentrum rückt dabei - anders als in Händels Oratorium - nicht der Triumph Israels über die Ägypter, sondern das Wunderbare des Eingreifens Gottes beim Auszug der Israeliten in Form von Naturereignissen. Hierfür steht der Titel "Beben", der sowohl das Erdbeben ("mota estfterra") im Psalm wie auch die historische und emotionale Erschütterung im Moment der Befreiung aus langjähriger Gefangenschaft meint.

In der Einleitung von "Beben" sind mehrere Anklänge an den ersten Teil des Oratoriums zu hören. Es erklingen kurze Zitate, die bei Händel sehr plastisch "all manner of flies" und "a thick darkness" illustrieren. Die anschließende Sopranarie ist in weiten Teilen aus dem Flötenmotiv des Chores "But as for his People" gebildet. Im zweiten Teil von "Beben" gibt es zwei Ausblicke auf den zweiten Teil von "Israel in Ägypten": Die beiden Sopranrufe zu Beginn des Schlußteils verweisen auf eine ähnliche Konstellation in Händels Schlußchor. Außerdem erklingt in den Streichern jener punktierte Rhythmus, der kurz darauf den zweiten Teil des Oratoriums einleiten wird.

Die Tonsprache von "Beben" ist geprägt von einer atonalen, aber faßlichen Harmonik, die stellenweise auch tonale Elemente einschließt, so daß die Anklänge an Händel nicht wie Fremdkörper wirken. Der große barocke Orchesterapparat wurde um Blechbläser und Orgel reduziert und wird eher kammermusikalisch eingesetzt. Die Verwendung der Instrumente ist formbildend. Dem kirchenmusikalischen Kontext trägt Rechnung, daß "Beben" als eine Kantate angelegt ist, deren einzelne Abschnitte den Sinneinheiten des Psalmtextes entsprechen.

Lateinisch

1/2 alleluia in exitu Israhel de Aegypto
domus Iacob de populo barbaro
facta est ludaea sanctificatioeius Israhel potestas eius

3/4 mare vidit et Iordanis conversusest retrorsum
montes exultaverunt ut arietes colles sicut agni ovium
quid est tibi mare quod et tu Iordanis

5/6 quia conversus es retrorsum
montes exultastis sicut arietes
et colles sicut agni ovium

7/8 a facie Domini mota est terra a facie Dei Iacob
qui convertitpetram in stagla aquarum
et rupem in fontes aquarum

Deutsch

1/2 Da Israel aus Ägypten zog,
das Haus Jakob aus dem fremden Volk,
da ward Juda sein Heiligtum, Israel seine Herrschaft.

3/4 Das Meer sah es und floh; der Jordan wandte sich zurück;
die Berge hüpften wie die Lämmer, die Hügel wie die jungen Schafe.
Was war dir, du Meer, daß du flohest, und du, Jordan,

5/6 daß du dich zurückwandtest,
ihr Berge, daß ihr hüpftet wie die Lämmer,
ihr Hügel wie die jungen Schafe?

7/8 Vor dem  HERRN bebte die Erde, vor dem Gott Jakobs,
der den Fels wandelte in einen Wassersee
und die Steine in Wasserbrunnen.

Die Komposition ist gegliedert in fünf Teile:

  1. Einleitung (textlos).

Der Orgelpunkt C in den Celli klingt nahtlos aus dem Schlußakkord von Händel herüber. Er wird allmählich abgelöst von des als Zentralton, über dem sich in Orchester und Frauenstimmen eine langsame Aufwärtsbewegung zum e2 entfaltet.

  1. Arie (Psalmverse 1 & 2).

Der Sopran übernimmt das vorausgehende e2 vom Chor und formt in einem viermaligen „Alleluia" eine immer weiter ausgreifende Melodie. Danach schildert er, nur begleitet von zwei Flöten und zwei Oboen, in einem bewegten fünfstimmigen Satz das Thema des Psalms, den Auszug Israels ins Land Judäa. Die Arie versinkt in einem dichten, tiefen Streicherklang.

  1. Chor 1 (Psalmverse 3 & 4).

Aus diesem Streicherklang steigt der Chor empor. Sparsam begleitet vom Orchester (ohne Fagotte), berichtet er von den wundersamen Naturereignissen - dem rückwärtsfließenden Jordan und den hüpfenden Bergen. In die hüpfenden Streicherpizzikati mischen sich schließlich die beiden Fagotte.

  1. Solistenquartett (Psalmverse 5 & 6).

Zu den beiden Fagotten gesellen sich zwei Englischhörner. Sie formen eine pastoral gefärbte, gleichmäßig schreitende Bewegung, erst im Einklang, dann immer stärker melodisch. Über dieser Begleitung entspinnt sich ein Quartett der vier Vokalsolisten, die in vier verschiedenen Sprachen (Spanisch, Französisch, Deutsch, Englisch) gesprochen (!) dem Staunen über die Wunder der Natur Ausdruck verleihen. Schließlich treten (auf lateinisch) der Chor und weitere Orchesterinstrumente hinzu und kulminieren in einem großen Stimmengewirr.

  1. Chor 2 mit Abgesang (Psalmverse 7 & 8 und Doxologie).

Zweimal eingeleitet von einem Ruf des Solosoprans, formen Chor und Orchester in immer weiter ausschwingenden Tuttischlägen die Schockwellen des „Bebens". Diese verwandeln sich allmählich - dem biblischen Bild der Verwandlung von Stein in Wasser folgend - in eine liegende Klangfläche. Dem Geist über den Wassern gleich, singen die Solisten den Schlußsegen über dieser sich beruhigenden Klangfläche. Wie der einleitende Teil von „Beben" wird auch dieser Schlußteil von einem langen Orgelpunkt durchzogen, nämlich dem tiefen Fis der Kontrabässe, mit dem die Komposition auch ausklingt.

Damit die ungewohnten musikalischen Anforderungen von "Beben" - zumal neben der aufwendigen Probenarbeit für "Israel in Ägypten" - für einen Laienchor realisierbar sind, waren einige pragmatische Maßnahmen erforderlich. Obwohl nicht im klassischen Sinne colla parte geführt, sind die Chorpartien doch in eine tragende Schicht des Orchesters eingebettet. Während der Orchestersatz konventionell komponiert ist, bildet der Chor streckenweise Klangfelder, die den einzelnen Chorstimmen in Tongebung und Rhythmus individuelle Freiheiten lassen und ein gewisses Moment von Zufall enthalten.

Dafür kommen in der Partitur auch unkonventionelle Notationsformen zum Einsatz. z.B. begegnete in Dreiliniensystem, das nicht wie das Fünfliniensystem konkrete Tonhöhen vorschreibt, sondern nur zwischen "hoch", "mittel" und "tief' unterscheidet. Jeder Sänger der Chorgruppe wählt innerhalb dieser Vorgabe spontan einen Ton und hält diesen, so daß sich mehr oder weniger dichte Akkorde ergeben, deren genaue Zusammensetzung nicht vorhersehbar ist:

Eine andere Notationsweise schreibt vor, daß alle Stimmen einer Gruppe auf demselben Ton beginnen, zu einem beliebigen höheren Ton wechseln und dann zum Ausgangston zurückkehren, und zwar im Tempo des individuellen Atems. Die Tonwechsel erfolgen also nicht synchron, sondern verschieben sich gegeneinander in einem nicht vorhersehbaren Rhythmus.

Auch die Einteilung des Chores in drei Gruppen verdankt sich pragmatischen Überlegungen. Erfahrungsgemäß sind Männerstimmen in großen Laienchören meist unterrepräsentiert. Daher gibt es in „Beben" zwei Frauen-, aber nur eine Männergruppe. Da die Männerstimmen sich in Klangfarbe und Lage deutlich von den Frauenstimmen unterscheiden, werden beide oft nicht als Tutti komponiert, sondern alternierend, so daß sie klanglich besser zur Geltung kommen. Nur im fünften Teil werden alle drei Chorgruppen in einem Kanon zu einer großen Klangmasse vereinigt, in der sich die unterschiedlichen Stimmfarben auflösen.

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